Judentum und Israel
haGalil onLine - http://www.hagalil.com
     
Archiv:
Religion aktuell
Spenden Sie mit PayPal - schnell, kostenlos und sicher!

hagalil.com

Search haGalil

Newsletter abonnieren
e-Postkarten

Bücher / Morascha
Koscher leben...

 

  

Jüdische Auslegungen und Positionen
zu den Jesajazitaten der christlichen Schriften

Michael Hilton

Jesaja und das Bild vom leidenden G'ttesknecht

Text 3: Jesaja 53,4f

"Fürwahr er trug unsre Krankheit und lud auf sich unsre Schmer zen... Er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen" (Jes. 53,4f).

Im zweiten Teil des Jesajabuches geht es in erster Linie um die Wiederherstellung Israels. Er enthält vier für sich stehende Abschnitte, die auch oft als »Gottesknechtlieder« bezeichnet werden. Im letzten dieser vier Textabschnitte (Jesaja 52,13—53,12) erscheint der Knecht als ein von Schmerzen gequälter Mann. Er ist unschuldig, doch er sühnt durch sein Leiden die Sünden seiner Mitmenschen. Aus diesem Grund wird er als »der leidende Gottesknecht« bezeichnet.

Der erste Teil dieses Jesajatextes wird im Matthäusevangelium zitiert. Das Matthäusevangelium ist präzise und sorgfältig konstruiert, vor allem der Teil, der allmählich zur Beschreibung der Kreuzigung führt. Matthäus 8,16—17 beginnt mit folgendem Zitat:

Am Abend brachte man viele Besessene zu ihm. Er trieb mit seinem Wort die Geister aus und heilte alle Kranken. Dadurch sollte sich erfüllen, was durch den Propheten Jesaja gesagt worden ist: Er hat unsere Leiden auf sich genommen und unsere Krankheiten getragen.

Das Jesajazitat wirkt in seinem unmittelbaren Zusammenhang seltsam unpassend. In den Erzählungen über Jesu Heilungen gibt es keinen Hinweis darauf, dass er die Krankheiten auf sich selbst nahm. Matthäus denkt hier eindeutig an die anschließende Erzählung über die Kreuzigung.

Das Targum Jonathan, das vermutlich aus dem 3. oder 4. Jahrhundert d. Z. stammt, identifiziert den Gottesknecht mit dem Messias. Christopher North schreibt in seiner wertvollen Analyse der jüdischen und christlichen Auslegungen der Gottesknechtlieder des Jesajabuchs, dass sich das Targum auf frühere Traditionen gründen müsse. Denn Juden hätten wohl kaum angefangen, diesen Abschnitt auf den Messias zu beziehen, jedenfalls nicht so qualifiziert wie das Targum, nachdem Christen ihn bereits auf Christus bezogen hatten. Wie die Analyse der vorherigen Bibeltexte zeigt, trifft Norths Argument für die Zeit der großen mittelalterlichen Kommentatoren zu, nicht aber für die Zeit des Talmud. Alan Segal wies überzeugend nach, dass Apostelgeschichte 8,32ff der älteste Text ist, der den Gottesknecht mit dem »Messias« identifiziert. Das war neu in der christlichen Auslegung, und die Rabbinen schlossen sich ihr später an. Die Messiasvorstellungen im Talmud sind stark von den Auseinandersetzungen mit den Christen geprägt, wobei die Rabbinen behaupteten, der Messias sei noch nicht gekommen. North selbst verweist auf andere Texte in Midrasch und Talmud, die messianische Deutungen liefern, darunter zum Beispiel der folgende:

Wie heißt er [der Messias]? — In der Schule Rabbi Schilas sagten sie, er heiße »Schilo«, denn es heißt: »bis Schilo kommt« (Gen. 49,10).
Rabbi Jannai sagte, er heiße »Jinon«, denn es heißt: »Im Angesicht der Sonne wird sein Name sprossen [jinon] (Ps. 72,17). 
In der Schule Rabbi Chaninas sagten sie, er heiße »Chanina«, denn es heißt: »Ich werde euch kein Erbarmen [chanina] schenken« (Jer. 16,13). 
Manche sagen, er heiße »Menachem« (Sohn Hiskijas), denn es heißt: »denn fern ist mir der Tröster [menachem], der mein Herz erquickte« (Klgl. 1,16). 
Die Rabbanan sagten, er heiße »der Aussätzige des Lehrhauses«, denn es heißt: »unsere Krankheiten hat er getragen und unsere Schmerzen hat er auf sich geladen; wir aber hielten ihn für von Gott gestraft, geschlagen und geplagt« (Jes. 53,4).

In diesem Midrasch werden die verschiedenen Namen durch Wortspiele mit den zitierten Texten begründet und sind vermutlich nicht ernst zu nehmen. Der Schilo-Text war häufig Gegenstand der Auseinandersetzung zwischen Juden und Christen. Ephraim Urbach schreibt in seiner Arbeit The Sages, einer hervorragenden modernen Darstellung des rabbinischen Denkens:

Während sich solche Texte in den christlichen Quellen auf die Lebenszeit eines Messias beziehen, der bereits lebte und starb, beziehen sich die Anspielungen in den rabbinischen Homilien auf einen Messias, dessen Kommen noch ausstand. Als Christen im 2. Jahrhundert ihrerseits begannen, von einer Verzögerung der Wiederkunft zu reden, verloren die Zeichen und Hinweise, die für die erste Ankunft des Messias sorgsam gedeutet werden sollten, unvermeidlich ihre Bedeutung.

Urbach vermutet, die späteren Rabbinen hätten bedenkenlos Texte wie diesen über den leidenden Gottesknecht benutzt, trotz der Bedeutung, die ihnen von den Christen beigelegt worden war. Als der Zyklus der Synagogenlesungen im 6. oder 7.Jahrhundert festgelegt wurde, ließ man die Texte über den leidenden Gottesknecht jedoch aus, vermutlich aufgrund ihrer Verbindung mit dem Christentum. Im gegenwärtigen Zeitalter des jüdisch-christlichen Dialogs haben die Reform Synagogues of Great Britain diesen Text nun wieder zurück in die Liturgie gebracht. Er befindet sich unter den Gebeten für Jom Kippur, wo er mit den Worten eingeführt wird: »Wir erinnern uns an den unbekannten Gottesknecht, dessen Schicksal an das Schicksal unseres Volkes erinnert.«
Dies ist die geläufigste rabbinische Deutung dieses Textes: »Er«, der leidende Knecht, ist ein Mitglied des Volkes Israel, und die Wendung »unsere Missetaten« bezieht sich ebenfalls auf das Volk Israel. »Er«, der Gerechte, leidet an »unseren Übertretungen«, den Sünden des Restes von uns. Gottes unschuldiger Knecht leidet mit den Schuldigen. 
Jesaja zeigt in diesem Text deutlich, dass er die Geschichte im Buch Genesis über die Zerstörung von Sodom und Gomorra kennt und über Abraham, der fragte: »Wirst du wohl den Gerechten mit dem Bösewicht hinrichten?« (Gen. 18,23). Die kollektive Deutung des Textes war bei den jüdischen Auslegern seit Raschi üblich, obwohl sie, wie North feststellt, früher weniger verbreitet war als die messianischen Deutungen: »Juden gaben die messianische Deutung zugunsten der kollektiven auf als Mittel der Verteidigung gegen die Christen.« Einige mittelalterliche Kommentatoren, zum Beispiel Ibn Esra und Radak, verweisen in ihren Ausführungen ausdrücklich auf die christliche messianische Deutung.

Joel Rembaum beobachtete dreierlei Reaktionen jüdischer Kommentatoren auf diese christliche Behauptungen. Die Vermeidung der christlichen messianischen Deutung war nur eine dieser Möglichkeiten. Die christliche Verkündigung sah im Exil der Juden einen Beweis dafür, dass Gott sein Volk verworfen hatte. Die kollektive Deutung betonte, dass Juden selbst im Exil »ein Licht der Völker« gewesen seien. Schließlich war Jesaja 53 hilfreich, um nach den Massakern des ersten Kreuzzugs 1096 eine Märtyrertheologie zu entwickeln. Obwohl das Volk leide, erwarte es am Ende die Rettung. Diese zu letzt genannte Vorstellung prägte vor allem Raschi, der die Massaker von 1096 erlebte. Sein Kommentar zu unserem Text ist bemerkenswert:

Er litt, damit jede Nation in den Leiden Israels Sühne finden kann: die Krankheit, die uns treffen sollte, hat er getragen. Wir dachten, er sei von Gott gehasst, doch dem war nicht so. Er wurde wegen unserer Übertretungen verwundet, er wurde wegen unserer Missetaten geschlagen... Er wurde gezüchtigt, damit die ganze Welt Frieden hat.

Raschis neue Lehre über ein stellvertretendes Leiden muss aus christlichen Quellen stammen. Doch er kehrt die Argumente seiner Gegner um, indem er die christliche Lehre auf die Leiden Israels bezieht. Nicht der Tod Christi, sondern die Leiden Israels werden die Welt retten, indem Israel für die Sünden der Kirche sühnt. Man ist oft davon ausgegangen, dass Raschi hier an Anselm von Canterbury (1033—1109) gedacht haben könnte. Doch man braucht hier keinen bestimmten Gegner benennen, da Raschi sich einer allgemeinen christlichen Theologie entgegenstellt.

Raschis Vorstellung, dass Israel für die Sünden der Völker leidet, prägte die jüdischen Kommentatoren. Rembaum führt 31 spätere jüdische Auslegungen zu diesem Text an, von denen 14 diese Thematik aufgreifen. Alle scheinen sich bewusst gewesen zu sein, dass eine solche Deutung sich direkt gegen die christliche Leidensideologie richtet.

Mit dem Aufkommen der modernen Bibelwissenschaft im 18. Jahrhundert, gaben auch christliche Ausleger die messianische Deutung dieses Jesajatextes zugunsten einer ähnlichen kollektiven Deutung auf. Der Knecht galt nun als Teil des Volkes Israel, oder als idealisiertes Israel. Diese Interpretation fand nach 1892 zunehmend Verbreitung. Damals kam die These auf, die Gottesknechtslieder seien eine ursprünglich eigenständige Komposition gewesen, die in Deuterojesaja eingefügt wurde.

Die kollektive Deutung der mittelalterlichen Rabbinen beeinflusste auch die modernen Auslegungen des Matthäustextes. Die Vorstellung, dass ein Individuum das Leid eines ganzen Volkes symbolhaft zum Ausdruck bringt, entsprach dem, was Christen von Jesus glaubten. Und so schien jeder Text der hebräischen Tradition, in der Leiden oder gar Tod als Teil eines positiven Verhältnisses zwischen Gott und seinem Volk gedeutet werden konnte, unmittelbar diesem neuen Glauben zu entsprechen, zunächst als Trost und darin als Schritt zu einer neuen Theologie. Matthäus' Gemeinde erwog ernstlich, ob das, was wie eine Katastrophe aussah, ein neuer Anfang sein könnte. So betrachtet, scheint Matthäus' Verwendung des »leidenden Gottesknechts« der kollektiven rabbinischen Deutung ähnlich zu sein. Wie viele der rabbinischen Kommentatoren bezieht diese moderne Lesart von Matthäus die Gefangenschaft des Knechts unmittelbar auf die Zeit des Verfassers. Der Text wird »erfüllt« durch Matthäus' eigenen Glauben sowie die Erfahrung seiner christlichen Gemeinde.

Schlussfolgerungen

Diese Beispiele für die Benutzung von Jesajatexten bei den Rabbinen und in den Evangelien werfen den gesamten Fragenkomplex nach der »Richtigkeit« eines Textverständnisses auf. Die Theologen beider Religionen konnten die Belegstellen offensichtlich sehr flexibel verwenden. Ein Text hat in seinem historischen Kontext eine bestimmte Bedeutung, ebenso aber auch innerhalb eines Regelsystems, das unser Verhalten bestimmen will, und dann kann er auf vielfältige Weise herangezogen werden, um neue historische Kontexte zu beleuchten. 
Die Rabbinen sahen sich in der Lage, die Texte in sehr unterschiedlicher Weise als rhetorische Mittel zu benutzen. Sie lebten in der Welt der Bibel. Die Bibeltexte boten ihnen zugleich auch das Material für spontane Witze oder zur Vorhersage des Weltenendes. 
Die Verfasser der Evangelien nahmen offenbar eine einheitlichere Haltung zu den hebräischen Schriften ein. Sie stellten fest, Jesus sei gekommen, um »zu erfüllen«, was die Propheten gesagt hatten. Diese einseitigere Sichtweise liegt an der Bedeutung der Auferstehungserfahrung für Christen. Die Texte der Propheten standen im Eindruck dieser Erfahrung.

Eine wichtige Geschichte für das Verständnis dieser christlichen Position findet sich in Lukas 24,13—49. Dort erscheint Jesus seinen Jüngern auf dem Weg nach Emmaus und »öffnet ihnen die Augen für das Verständnis der Schrift« (Vers 45). Dies ist nicht unbedingt wörtlich zu verstehen. In ihrer unmittelbaren Reaktion empfanden sie Jesu Tod als unvorhergesehene und totale Katastrophe. Alles, was sich seine Nachfolger erhofft hatten, war zusammengebrochen. Nachdem sich der Schock jedoch gelegt hatte, spürten die Jünger, dass etwas zurückgeblieben war, aus dem sie neue Hoffnung schöpfen konnten. Nach Phasen des Ringens, der Erleuchtung und der Offenbarung kamen sie zu dem Schluss, dass das, was wie eine Katastrophe ausgesehen hatte, eine Bedeutung für ihr Leben besaß. Die Evangelien weisen auf diese Erfahrung im Leben der ersten Christen hin. Innerhalb der entstehenden Kirche entwickelte sich eine Autoritätsstruktur, die sich darauf gründet, dass einige mehr als andere wissen. Das könnte Lukas gemeint haben, als er sagte, Jesus habe seinen Jüngern die Geheimnisse der Schrift erklärt.

Aufgrund der Dominanz, die das Christentum in der Weltgeschichte ein genommen hat, sind weite Bereiche unserer Gesellschaft von christlichen Texten und christlichen Deutungen geprägt. Selbst jüdische Gemeinden sind von christlichen Deutungen beeinflusst. Der Dialog ist nichts Neues, wie wir sehen werden. Heute spiegelt die Einstellung zu einem Text die Haltung zum interreligiösen Dialog wider. Sind diejenigen, die anders denken als wir, grundsätzlich im Irrtum, oder können ihre Ansichten und Deutungen gleichermaßen wahr sein? Vielleicht ist es an der Zeit, gründlicher in die Texte anderer Religionen zu schauen und im gemeinsamen Studium unser Verständnis zu erweitern. Vielleicht ist es an der Zeit, diejenigen in unseren Gemeinden in Frage zu stellen, die einem Text nur eine einzige zeitgemäße Deutung zugestehen. Denn in Wirklichkeit gibt es zahlreiche sinnvolle Möglichkeiten, aus alten Texten eine Botschaft für die Gegenwart zu lesen.

Fussnoten v. 61 - 100 in der Quelle: Hilton, Michael, Wie es sich christelt, so jüdelt es sich - 2000 Jahre christlicher Einfluss  auf das jüdische Leben

FORUM / LESERBRIEFE:
Die Offensive der Missionare

 


Fragen an die Rebbezin...
Archivsuche:

Werben in haGalil?
Ihre Anzeige hier!

Advertize in haGalil?
Your Ad here!

haGalil.com ist kostenlos! Trotzdem: haGalil kostet Geld!

Die bei haGalil onLine und den angeschlossenen Domains veröffentlichten Texte spiegeln Meinungen und Kenntnisstand der jeweiligen Autoren.
Sie geben nicht unbedingt die Meinung der Herausgeber bzw. der Gesamtredaktion wieder.
haGalil onLine

[Impressum]
Kontakt: hagalil@hagalil.com
haGalil - Postfach 900504 - D-81505 München

1995-2010... © haGalil onLine® bzw. den angeg. Rechteinhabern
Munich - Tel Aviv - All Rights Reserved